Dein Kampf ist vorbei

Wildflowers in the high sierras –

a country for old men

Die John Muir Shelter, die das Titelbild des Blogbeitrags ziert, hat mich fasziniert, seit ich das erste mal ein Bild von ihr gesehen habe. Hoch oben auf fast 4000 Metern thront sie in Schnee, Eis und Einsamkeit, unter unendlich blauem Himmel trotzt sie Sturm, Hagel und Gewitter. Für mich ist sie das Sinnbild der Sierras, ein Bollwerk in einer wunderschönen wilden Welt, welche die meisten nie besuchen werden.

 

Seit wir die Sierras betreten haben, habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Das, was wir Zeit nennen, fließt davon in eiskalten und glasklaren Flüssen, geht unter in spiegelglatten blauen Gebirgsseen, wird vom Wind weggetragen und kommt als Schnee und Eis zurück.

Diese unglaubliche Landschaft durchstreifen wir mit offenen Mündern, wir durchqueren eine Welt, die so wunderschön ist, dass ich manchmal Angst habe, sie könnte einfach vor unseren Augen zerfallen. Wie ein Heiligtum muss man es mit Ehrfurcht betreten. Es ist das Unglaublichste, das ich je gesehen habe. Keine Schönheit, die man suchen muss, denn sie ist so offensichtlich, aber eine zerbrechliche. Pure, reine Schönheit, in Eis erstarrt.

 

10 Tage sind wir nun durch diese Wildnis gestreift, 7 Pässe haben wir hinter uns gelassen. Es ist wahnsinnig anstrengend und kraftraubend, die ersten Pässe liegen auf fast 4000 Metern. Unsere Taktik ( und die Taktik der meisten hiker) ist, am Abend so nahe wie möglich an den Pass zu kommen, jedoch auch nicht zu hoch, um noch einigermaßen schlafen zu können.  Am nächsten Morgen wandern wir oft schon in Eiseskälte um 5 Uhr los, um den finalen Aufstieg anzugehen. Es ist immer wieder eine besondere Stimmung, fast feierlich, sich im Morgengrauen langsam Schritt für Schritt auf den Weg über diese hohen Gipfel zu wagen. Es ist fast so, als würde man leise um Einlass in diese uns ferne Welt bitten. Alle Mühen, jegliches Gekeuche und Gehuste (ich und viele andere haben einen Höhen Husten) sind vergessen, sobald man auf die andere Seite blickt. Eine Decke aus Schnee und Eis, darunter Felsen und ganz unten die schönsten Seen, die man sich vorstellen kann. Meistens sind die Pässe auf unserer Aufstiegsseite ( Süden) so gut wie schneefrei. Nur der John Muir Pass macht uns da einen Strich durch die Rechnung. Die Schneefelder beginnen schon weit unten und die Schneebrücken über die reißenden Flüsse sind dünn geworden und somit gefährlich. Wir steigen immer über die Nordseite ab, das heißt, hier liegt definitiv noch viel Schnee. Der Sinn des frühen Aufstehens ist, noch auf gefrorenem Schnee laufen zu können. Mit Mikrospikes und Schneetellern klappt das sehr gut, doch je später es wird, desto weicher wird auch der Schnee. Bei einer Traverse über steile Schneefelder kann Abrutschen tödlich oder zumindest richtig übel sein. Meine große Angst vor steilen Traversen habe ich bald hinter mir gelassen, richtig scary wird es eigentlich nur am Mather Pass. Wir stehen mit 2 Mädels am höchsten Punkt und sehen keine Spuren von anderen Hikern, kein „boot-pack“.  Eine ganz leichte Spur führt nach rechts und wir beschließen zu viert, ihr zu folgen. Tja, im Nachhinein kann man sagen: falsche Entscheidung. Wir hätten einfach über ein Feld aus Felsen klettern müssen, dahinter hätte das boot-pack begonnen.

Zuerst ist unser Weg noch machbar, dann verliert sich die Spur und wir stehen an einem steilen Abhang, in dessen Oberfläche die gierige Sonne tiefe Löcher gebrannt hat, sogenannte Suncups.

Wir versuchen nun, uns von cup zu cup zu hangeln, eigentlich wären Steigeisen hier die beste Wahl. Auch mit einer Eisaxt hätte ich mich besser gefühlt. Aber nun stehen wir schon mittendrin und versuchen, die Eiswand horizontal zu queren. 2 Mal fühle ich mich wirklich super unsafe, ansonsten heißt es: weitergehen, nicht nach unten schauen! Der 2. Teil wird etwas einfacher und irgendwann können wir über ein paar Felsen zum Trail absteigen. Was für ein Adrenalinschub!! Mein Körper zittert und vibriert und mein Gehirn schüttet Endorphine ohne Ende aus! Ich lebe noch!

Weiter unten beginnt dann das Murmeltierland, auf Felsen sitzend und pfeifend bewachen die pelzigen Murmler ihr Reich, Rehe huschen vorbei, seltsame Vögel geben lustige Laute von sich und wir sehen sogar ein paar Picas (Pfeifhasen)!

Einziges Ärgernis sind mittlerweile die Moskitos, welche die Schneeschmelze lieben! Überall lauern sie, schon morgens kleben sie am Zelt, sobald man kurz anhält, nehmen sie Witterung auf und schlagen zu. Das 100% deet hilft etwa 30 Minuten, auf der Packung lese ich 10 Stunden. Frechheit! Die Viecher sind so aggressiv, dass ich neben meinen anderen Tagträumen träume von Haarspray und Feuerzeugen habe. Später ziehe ich mit einem Flammenwerfer verrückt und gehässig lachend gegen die Mistviecher in den Krieg und metzle alles nieder, lachend und tanzend. Schließlich sprenge ich mich aus purer Verzweiflung mit ihnen einfach in die Luft.

 

Vielleicht vergeht die Zeit hier oben anders, wie in den Märchen, in welchen man feststellt, dass in der Welt unten bereits 100 Jahre vergangen sind, oder anders herum. Eine Ewigkeit später kommen wir im Vermillion Valley Resort an. Wenn Kennedy Meadows das Tor zu den Sierras ist, dann ist das VVR das Symbol dafür, dass die schwierigsten Pässe nun vorüber sind. Wenn Hiker hier mit Moskitostichen übersät, voller Schlamm und Schweiß und mit notdürftig abgeklebten Fleischwunden stehen, wissen sie:  der harte Teil der High Sierras ist geschafft! Unter dem „Resort“ darf man sich nicht zu viel vorstellen, es sind einfach ein paar Blockhütten, mit Generator betrieben, an einem wunderbaren See. Es gibt ein großes Gebäude mit einem kleinen Store, einem Café und einer Terrasse. Hiker dürfen hier umsonst zelten, viele lassen sich Versorgungspakete hierher schicken, weil der Store mitten im Nirgendwo doch etwas teuer für einen Großeinkauf ist. Da wir eigentlich zu wenig zu essen haben, plündere ich die hikerbox und finde das gesamte Essen für 2 Tage, plus ein Bomben sitzkissen, meines habe ich irgendwo verloren. The trail takes and provides.

 

Witzigerweise treffe ich hier „Goldfish“ wieder. Wir sind 2019 im selben Bus von Lone Pine nach Chester gefahren. Irre.

Und zu meiner großen Freude „Paint“, ein supertoller, witziger älterer Mann mit Rauschebart. Ihn habe ich 2019 in hiker town getroffen und wir haben einen ganzen Abend lang geredet. Bei Herr der Ringe ist ja Gandalf eindeutig mein Lieblingscharakter. Und auch diese älteren Herren mit Rauschebart sind ganz besondere Exemplare. Meist sind sie sehr offen, sehr intellektuell und haben einen umwerfenden Humor. Sie haben der „normalen“ Gesellschaft den Rücken gekehrt, weil sie in ihr nicht leben können, deswegen leben sie in einer halb-Wildnis wie dem VVR. Ich lerne dort auch Wayne kennen, der eigentlich in der Einsamkeit von Washington zu Hause ist und 27 Jahre mit Kindern in Kriegsgebieten gearbeitet hat. Er lädt uns sofort zu sich nach Hause ein, wenn wir in Washington sind. Auch er, ein älterer Herr mit wildem Bart. Von diesen lebensfrohen, intelligenten, sturen Männern gibt es hier in den Sierras viele. Sie halten für uns Hiker unsere Welt am laufen, ob in der Küche, bei Konstruktionen, neuen Plänen, auf Booten, Traktoren  oder als trailangel. Und ich möchte ein Loblied auf sie singen. Vielen Dank, ihr einsamen Verrückten!

 

Als ich im Bücherregal des Cafés stöbere, sehe ich gleich 4 mal ein Buch über die Wildblumen in den High Sierras. Dieses Buch haben wohl viele gekauft, und dann hier ausgesetzt, weil es sie doch nicht interessiert hat.

Ich muss lächeln und an die bärtigen alten Männer denken, die auch ganz besondere und seltene Exemplare von Wildblumen sind, die nur hier richtig gedeihen. Hier oben in Schnee und Eis, neben blau-kalten Seen. Überall sonst würden sie eingehen.

 

Zum Schluss noch einen Gedanken an einen zwar nicht mehr bärtigen, und gar nicht so alten Mann, aber auch er hat seine Welt und die seiner Lieben am Laufen gehalten, immer hartnäckig für die kämpfend, die ihm etwas bedeuten, Thomas Vater.

Ich war fest davon überzeugt, dass er durchhält, bis wir im Herbst nach Hause kommen. Manchmal täusche ich mich aber.

 

Wenn ich ihn mit einer seltenen Wildblumen verglichen hätte, hätte er wahrscheinlich gesagt:

 

„Solang’s kaa Kleeblatt is …“

 

In diesem Sinne

 

Viva la Vida

Wir hatten über eine Woche keinen Empfang. Als ich wieder ein Signal hatte, wollte ich nur checken, ob unser Paket in Mammoth angekommen ist. Dann musste ich über WhatsApp erfahren, dass mein Vater gestorben ist. Für so eine Nachricht gibt es keine gute Art der Übermittlung. Ich weiß genau, dass er nicht gewollt hätte, dass wir wegen ihm den Trail abbrechen. Und indem wir weiter laufen, halten wir sein Andenken in Ehren. Du kannst mich nicht mehr hören und wir werden uns nie wieder sehen, aber die 3300 Kilometer die wir dieses Jahr laufen, laufen wir für dich. – Thomas

 

10 thoughts on “Dein Kampf ist vorbei

  1. wunderschön geschrieben:) man möchte am liebsten gleich loslaufen und das auch erleben.
    Mein aufrichtiges Beileid. Ich habe Hermann als sehr offenen, lebenslustigen und geselligen Menschen kennengelernt und werde ihn so in Erinnerung behalten.
    Auch wenn man weiß, das nicht mehr viel Zeit bleibt und man sich auf den Tod vorbereiten, ist es dann doch ein schmerzender Verlust, der einem erst dann richtig klar wird.
    Alles Gute, Ortrud

  2. Lieber Thomas,
    mein aufrichtiges Beileid. Ich weiß, was es bedeutet in einem solchen Moment weit weg von zu Hause zu sein. Fühl dich in der Ferne von mir umarmt.
    Viele liebe Grüße
    Yuling

  3. Lieber Thomas, liebe Myrtis,
    mein herzliches Beileid .
    Ich finde es richtig, das ihr im Gedenken an deinen Vater euren Weg weiter geht!
    Viele aus dem Thalia Team haben Herman als besondere Persönlichkeit in Erinnerung.
    Er hat seinen Frieden gefunden.
    Liebe Grüße Karin

  4. Liebe Myrtis, lieber Thomas,

    ich lese immer wieder eure Abenteuer mit. Kommentiert habe ich noch nicht, das liegt mir nicht so. Ich bin aber immer ganz aufgeregt und neugierig, wie es wohl gerade bei euch ist. Liebste Grüße aus dem Globi in Nürnberg und mein herzliches Beileid für euren Verlust.

    <3

  5. Lieber Thomas,
    ich kam erst heute mal wieder zum Lesen und es tut mir so leid, dass Dein Vater Hermann dich nicht mehr persönlich nach Deiner Rückkehr begrüßen kann. Aber Du trägst ihn im Herzen und ich bin sicher, der ist stolz wie Bolle auf seinen Bub und Deine Frau. Mein Beileid und kommt gut wieder nach Hause. Lotti

  6. Lieber Thomas, Liebe Myrtis,
    Nun schon zum zweiten Mal lese ich diesen ganz besonderen Beitrag und wieder schießen mit beim Lesen Tränen in die Augen. Mein aufrichtiges Beileid für euren Verlust. Und gleichzeitig ein tiefes Danke, dass ihr uns auf euren Reisen mitnehmt, und du, Myrtis, uns mit deinen ganz eigenen Schreibstil an euren inneren und äußeren Welten teilhaben lässt. <3
    Passt auf euch auf, herzliche Grüße

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