Meine Finger sind blau.
Nicht, weil ich mich mal wieder verletzt habe, sondern wegen dieser Beeren.
Sie sind einfach überall! Blaubeeren und Huckleberries säumen den Trail, hellblau, dunkelblau, lila, fast schwarz. Die einen glänzend, als wären sie nass, die anderen samtig und matt. Sobald ich dem Strauch nur eine von ihnen raube, funkelt dort hinten schon eine dunklere, eine noch größere, eine noch bessere! Das Abendlicht in Washington taucht die Beeren-Büsche in rosarotes Licht, fast schon kitschig.
Zu Beginn war ich etwas zwiegespalten, was Washington angeht. Und immer noch verfluche ich es manchmal und sehne die Wüste oder die Sierras herbei:
Eine schöne, trockene Hitze, statt dieser grünen Hölle mit zuviel Photosynthese und Chlorophyll!
Eine Landschaft oberhalb der Baumgrenze, ohne diesen grünen Dschungel! Es ist hier so grün, grüner geht es nicht. Alles ist überwuchert von dicken, schweren, dampfigen Stielen, Blättern, Stängeln, Sträuchern. Die Pflanzen schießen aus der Erde und winden sich nach oben, zum Sonnenlicht, das durch die Kronen bricht. Alles ist in feuchte Hitze und Dampf getunkt, schwer liegt dieser auf den Blättern und in der Luft. Meine Kleidung und ich sind immerzu nass und klamm, nie wird man ganz trocken.
Dann wieder brechen wir durch den grünen Tunnel, hinauf, hinauf, dem Licht entgegen! Der Vorhang reißt auf und ich kann endlich wieder atmen! Freigelegt werden Gipfel und Berge, Seen und seltsame Vulkanlandschaften. Dann bin ich glücklich und verbringe hier mit die schönsten Tage des trails!
Washingtons Berge sind nicht die Sierras, wir befinden uns auf ca 1500 bis 2000 m. Deswegen stechen hier die hohen Gipfel so unübersehbar heraus. In ewigem Eis ruhen sie über allem. Weiße Riesen zwischen grünen Bergen. Und das macht diese so phantastisch: man kommt ihnen so nahe! Mount Adams umrunden wir zur Hälfte. 3740 m hoch liegt er einfach so vor uns. Kein Foto kann wiedergeben, wie nahe wir diesem Schnee-Berg sind! Es ist überwältigend! Dieser Berg zieht mich auf magische Weise an, lässt mich nicht los. Es scheint, als könnten wir in ein paar Schritten die ersten Schneefelder erreichen. Mount Adams am Morgen, am Mittag, am Abend, im Sternenlicht. Immer aus einer anderen Perspektive, immer gewaltig und wunderschön.
Der nächste Riese, den wir jagen, ist Mount Rainier, ein 4392 m hoher Schichtvulkan mit 90 Quadratkilometern Gletscher! Es regnet seit 2 Tagen, was auch immer Schönes vor oder unter uns liegt, wir sehen es nicht. Es ist in den Nebeln verborgen.
Doch wie so oft haben wir Glück und bei einer der schönsten Passagen Washingtons reißt der Himmel auf und wir können das „knife‘s edge“, einen schmalen Grat in den Goat Rocks, gefahrlos angehen. Doch Mount Rainier ist schüchtern und bedeckt sich mit Wolken, wie seit Tagen schon. Dann endlich: wir schrauben uns stöhnend in Serpentinen einen Berg hinauf, eine letzte Kurve am Pass, ich drehe mich um und schreie auf vor Schreck!
Da thront er plötzlich vor mir! Gewaltig, riesig, alles überragend, alles überschattend. Er hatte sich nur versteckt!
Diese Tage genieße ich, wir bestaunen Gipfel, pflücken Beeren und schwimmen in Seen. Eines Abends sehe ich ein PCT Schild, das Logo ist abgeblättert und jemand hat stattdessen eine simple Frage dort hinterlassen: „Are you here?“. Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Wie im Traum sind Zeit, Ort und Entfernung hier manchmal seltsam surreal.
Lubos und Tereza, die wir 2019 kennengelernt haben, machen trail magic für uns! 2 Tage verbringen wir miteinander, bevor sie wieder nach Kanada zurückkehren. Nach dem Trail werden wir sie in Vancouver besuchen. Der letzte Stretch nach Snoqualmie ist wieder sehr zäh! Grüne Hölle! Heute übernachten wir in einer Art Berghütte in Snoqualmie und werden noch ähnliche Städte mit lustigen Namen wie Stehekin und Skykomish besuchen. Ich bin gespannt auf die letzten 280 Meilen!
Happy trails!